ÖPNV und Deutschlandticket

Positionspapier der Parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion

von Martin Kröber, MdB und Mathias Stein, MdB

Die SPD braucht mehr verkehrspolitisches Profil. Themen wie gesellschaftliche Teilhabe und soziale Gerechtigkeit sind Themen, die in ihrer Ausgestaltung längst im Verkehrsbereich angekommen sind – dies sollte uns allen spätestens nach dem bahnbrechenden Erfolg des 9€-Tickets und seinem Nachfolger, dem Deutschlandticket, klar sein. Dies zeigt auf: Gerade im Bereich des ÖPNV können verkehrspolitische Antworten auf die sozialen Fragen von heute und morgen gefunden werden.

Begriffswende einleiten – Deutungshoheit erkämpfen

Der Begriff Verkehrswende wurde über Jahre inflationär genutzt und ist verbraucht. Er wird von weiten Teilen der Bevölkerung als negativ konnotiert empfunden, da er mit Debatten über Fahrverbote und anderen Restriktionen lange Zeit aufgeladen wurde. Auch Argumentationen, die einen Wandel im Mobilitätsverhalten der Menschen in unserem Land erzeugen wollen, indem auf die stattfindende Klimakatastrophe verwiesen wird, verfehlen ihre Wirkung. Das Erreichen von Klimazielen oder reduzierten Emissionswerten ist zu abstrakt, um eine Motivation zu schaffen, im Alltag auf oft unattraktive, teure und dazu meist nicht verlässliche Verkehrsträger auszuweichen.

Davon ausgehend ergibt sich jedoch die Möglichkeit, den klimapolitischen Begriff Verkehrswende durch den sozialpolitischen Begriff Mobilitätsgerechtigkeit zu ergänzen. Dazu gehört, Alternativen zum motorisierten Individualverkehr (Autos) zu schaffen, die tatsächliche Mobilitätsoptionen darstellen: Soll heißen, in Flexibilität, Geschwindigkeit, Verlässlichkeit und Kosten annähernd gleichwertig oder gar überlegen sind. Denn ein Mangel an Mobilitätsoptionen geht vielerorts einher mit dem Zwang zum Auto. Dies empfinden wir als ungerecht. Die Ziele der Mobilitätsgerechtigkeit sind daher soziale Teilhabe zu ermöglichen, unabhängig von Lebensumständen und –orten, sowie durch den freiwilligen Verzicht auf das ohnehin schon viel zu teure Auto Bürger*innen zu entlasten und damit Chancengerechtigkeit steigern.

Soziale Teilhabe ermöglichen

Der ÖPNV ist ein seit Jahrzehnten vernachlässigter Teil der Daseinsvorsorge in unserem Land. Dabei stellt der ÖPNV ein Kernelement der Grundversorgung unserer Bevölkerung dar: Busse bringen die Kinder zur Schule, Senior*innen fahren mit der Straßenbahn zum Arzt und Pendler*innen nutzen die Regionalbahn, um aus dem Umland in die Stadt zur Arbeit zu kommen. Dort wo Regionen von öffentlichen Verkehrsmitteln abgeschnitten werden, ist der Zugang zu dieser Grundversorgung gefährdet. Stadtteile, Dörfer und gar ganze Regionen erhalten durch den ÖPNV Lebensqualität, oder verlieren sie durch mangelhafte Anbindung.

Insbesondere der ländliche Raum erfährt durch eine zuverlässige Anbindung durch den ÖPNV an Mittel- und Oberzentren eine massive Aufwertung. Perspektivisch ist das Versprechen jeder Ortschaft unseres Landes eine Bus- oder Zugverbindung im Stundentakt anzubieten jedoch unrealistisch. Stattdessen müssen hier innovative Mobilitätskonzepte umgesetzt werden: Park- & Ride-Stationen und schnell reagierende, flexible Rufbusse können hier Abhilfe schaffen. Aber auch technische Innovationen wie autonomes Fahren bieten aussichtsreiche Perspektiven für den ÖPNV im ländlichen Raum. Entsprechende Projekte laufen bereits in Ländern wie den USA und Israel im praktischen Versuch, unser Land hinkt dabei noch deutlich hinterher. Grund dafür sind formelle und gesetzliche Hürden, die eine Einführung autonomer Fahrsysteme erschweren. Wir können und sollten hier mutiger werden.

Auch an Orten, an denen es bereits Zugänge zum ÖPNV-System gibt, findet häufig noch immer eine Ausgrenzung bestimmter Menschengruppen statt – barrierefreie Haltestellen und Fahrzeuge sind längst nicht in allen Teilen des Landes eingeführt, zudem mangelt es vielerorts an einem verlässlichen Unterhalt bereits bestehender Anlagen wie Fahrstühlen. Der Umbau von Haltestellen und die Neubeschaffung von Fahrzeugen mit aktuellen barrierefreien Standards wird in vielen Kommunen allerdings noch Jahrzehnte dauern – das ist unzumutbar. Bund und Länder müssen Projekte initiieren, die ein barrierefreies ÖPNV-System in Rekordgeschwindigkeit ermöglichen. Hierzu sollten Verwaltungshürden reduziert, sowie Beschaffungs- und Umbaufristen neu gesetzt werden.

Viele Werktätige können aufgrund ihrer Arbeitszeiten nicht verlässlich auf den ÖPNV zurückgreifen. Insbesondere Menschen im Schichtbetrieb, aber auch im informellen Arbeitssektor sind häufig darauf angewiesen selbst mobil zu sein, da nachts das ÖPNV-Angebot vielerorts stark eingeschränkt, bis gar nicht vorhanden ist. Für die gesellschaftliche Beteiligung dieser Berufsgruppen und ihre finanzielle Entlastung ist die Bereitstellung Öffentlicher Verkehrsmittel in den Randzeiten von großer Bedeutung. Hierzu ist es jedoch auch unabdinglich den ÖPNV sicher für all seine Nutzer*innen zu gestalten: Sogenannte Angsträume, die vulnerable Personengruppen davon abhalten den ÖPNV nachts oder allein zu benutzen, müssen als solche adressiert und bekämpft werden. Beleuchtete Haltestellen und Unterführungen, funktionierende Notrufeinrichtungen und geschultes Personal sind Beispiele für wichtige Schritte bei der Erreichung dieses Ziels.

Deutschlandticket erhalten und verbessern

Aktuell verfügen mehr als elf Millionen Menschen über ein Deutschlandticket – kein anderes Projekt, das wir diese Legislatur auf den Weg gebracht haben, erreicht so viele Menschen. Daraus lässt sich ein klarer politischer Auftrag zum Erhalt des Tickets erkennen. Wir müssen diesen Auftrag annehmen und klar kommunizieren: Wir sind die Partei, die das Deutschlandticket mit Nachdruck eingeführt hat und halten wird.

Dabei hat das Ticket in vielerlei Hinsicht noch mehr Potential für soziale Gestaltungsmöglichkeiten, wie einer inklusiven Kindermitnahme, oder Vergünstigungen für Auszubildende. Auch bereits existierende Modelle wie das Deutschland-Jobticket schöpfen noch nicht die Möglichkeiten aus. Grund hierfür ist auch die jährlich wiederkehrende Debatte um die Preisstabilität des Tickets, die Unsicherheiten über den unternehmerischen Aufwand einer Einführung im Betrieb schüren, aber auch private Kund*innen vor einer Kaufentscheidung abschrecken.

Die bundesweite Einführung des Deutschland-Semestertickets wird fast drei Millionen Studierende mit in den Tarif holen – das ist ein toller Erfolg für junge Menschen, die nun kostengünstig im ganzen Land unterwegs sein können. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass der Preis des Semestertickets an den Preis des Deutschlandtickets gekoppelt ist – Preissteigerungen des Tickets werden diese Personengruppe, die über ein Solidarmodell zum Kauf des Tickets verpflichtet ist, empfindlich treffen.

Der Grundgedanke des Tickets war es, eine finanzielle Entlastung in Krisenzeiten zu schaffen. Insbesondere Pendler*innen haben von seiner Einführung profitiert. Aber auch Menschen, für die der Zugang zu den öffentlichen Nahverkehrsmitteln zuvor zu teuer war, haben das hier entstandene Angebot dankbar angenommen. Das Ticket steuert somit einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung von Mobilitätsarmut bei. Andererseits ist bereits der jetzige Kaufpreis von fast 50€ im Monat für viele Menschen in unserem Land eine große Geldsumme. Das sollten wir uns als Arbeiter*innenpartei stets vor Augen führen.

Die Preisstabilität bei 49€ ist Beschlusslage unserer Fraktion. Gegen Vorstöße von Regierungs- oder Länderseite, das Ticket teurer werden zu lassen, müssen wir uns entschieden zur Wehr setzen – hier muss es andere Finanzierungswege geben. Zudem sollten wir die Einführung eines bundeseinheitliche, ermäßigten Deutschlandticket für Bevölkerungsgruppen wie Senior*innen, junge Menschen und Bürgergeldempfänger*innen anstreben.

ÖPNV-Finanzierung sichern – Wirtschaft stärken

Ein attraktives ÖPNV-Angebot wird nicht allein durch niedrige Preise erzeugt. Stabile Verkehrswege, moderne und saubere Fahrzeuge, sowie ausreichend Personal erfordern hohe Investitionen und dauerhafte Mehrausgaben im Verkehrsbereich. Hierzu muss bei bereits existierenden Finanzierungswegen jedoch auch klar sein, in welche Bereiche das Geld fließt. Von Seiten des Bundes sind die beiden größten Geldströme für den ÖPNV die Finanzierung über Mittel aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG-Mittel) und, speziell für den SPNV, die Regionalisierungsmittel. Die Hürden für den Zugriff auf GVFG-Mittel sind jedoch oft zu hoch und insbesondere mit Blick auf die dafür nötigen Kosten-Nutzen-Kalkulationen haben strukturschwache und bevölkerungsarme Regionen wenig bis keine Chancen beim Neu- und Ausbau ihres ÖPNV-Angebotes unterstützt zu werden. Bei der Bereitstellung des SPNV kommen trotz Rekordsummen des Bundes bis zu einem Drittel der Mittel nicht einer Angebotsverbesserung zugute, sondern versickern in der Aufrechterhaltung von Verwaltungsstrukturen von Verkehrsverbünden, oder werden zur Finanzierung von Investitionen von Infrastrukturmaßnahmen zweckentfremdet.

Die Ampel-Koalition hat es sich zum Ziel gesetzt, die deutsche Wirtschaft durch die Ansiedlung neuer und moderner Industriezweige nachhaltig und zukunftsorientiert zu gestalten. Fest steht jedoch auch, dass für positive wirtschaftliche Entwicklungen, an denen das gesamte Land teilhaben kann, Standortgründungen abseits der großen industriellen Ballungszentren stattfinden müssen. In Zeiten des Fachkräftemangels ist es daher umso wichtiger, mit einem flächendeckenden ÖPNV-Netz Arbeitskräfte auch in dünn besiedelten Regionen zusammenziehen zu können und somit Teile des Landes von unserem wirtschaftlichen Fortschritt profitieren zu lassen, die als Abwanderungsregionen galten. Hierzu müssen bestehende Förderangebote insbesondere für strukturschwache Regionen leichter zugänglich gemacht werden, sowie neue Möglichkeiten zur gemeinsamen Unterstützung der ÖPNV-Finanzierung in den Kommunen durch Bund und Länder geschaffen werden. Zudem müssen Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern bei Themen wie Infrastrukturerhaltung und -ausbau, oder ÖPNV-Bereitstellung und Unterhalt verbindlich geklärt werden. Hierzu muss der Abschluss des im Koalitionsvertrag vereinbarten Ausbau- und Modernisierungspaktes forciert werden.

Zusammenfassung

Der ÖPNV ist Daseinsvorsorge und muss als solche verstanden und behandelt werden. Aus unserer sozialdemokratischen Perspektive bedeutet dies, ÖPNV als Motor für gesellschaftliche Teilhabe und wirtschaftliche Entwicklung zu verstehen. Unser Ziel muss es sein, das Gesamtsystem ÖPNV unter dem Gesichtspunkt der Mobilitätsgerechtigkeit verlässlich, zugänglich und attraktiv aufzustellen.

Begriffsklärung

Öffentlicher Verkehr (ÖV)

Beschreibt die Summe aller öffentlich zugänglichen Verkehrsangebote und Infrastrukturleistungen, sei es im Öffentlichen Personenverkehr, öffentlichen Gütertransport, oder auch im Post- oder Telekommunikationswesen. Dabei gibt es Öffentlichen Verkehr als Teil der Daseinsvorsorge (bspw. Öffentlichen Personennahverkehr, Wasserversorgung) und außerhalb der Daseinsvorsorge (bspw. Luftfahrtverkehr).

 Öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV)

Ist die Summe öffentlich zugänglicher Personentransportangebote zur Überwindung kurzer oder regionaler Distanzen (meist unter einer Stunde Fahrzeit oder unter 50km Fahrdistanz). Hierzu gehören z.B. Regionalzüge, Stadtbusse und Linienfähren mit öffentlichem Verkehrsauftrag. ÖPNV ist Hoheitsaufgabe der Bundesländer.

 Schienenpersonennahverkehr (SPNV)

Ist Teil des ÖPNV und beschreibt dort die Personenbeförderungsleistungen im Nahverkehr, die auf dem Schienenweg erbracht werden. Mit der Bahnreform 1994 wurde der SPNV zur Hoheitsaufgabe der Länder, wird aber maßgeblich durch den Bund in Form der sog. Regionalisierungsmittel finanziert.